Kristine Bilkau: "Eine Liebe, in Gedanken"

Antonia ist gestorben. Einfach eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Die Tochter, die sich daraufhin daran macht, die Wohnung der Verstorbenen auszuräumen und dabei auf einige  Erinnerungen trifft, findet sich eines Abends vor einem Haus wieder, in dem Antonia als junge Frau gelebt hat. Sie beginnt sich vorzustellen, wie ihre Mutter hier auf Edgar traf, einen jungen Mann, der einen ganzen Nachmittag auf Toni wartete - schließlich wollte diese nicht als zu leicht zu haben gelten.

 

Es war in den 60er Jahren in Norddeutschland, als Toni und Edgar sich das erste Mal trafen. Die Zeiten waren anders als heute. Toni lebte alleine in der Großstadt, weit entfernt von Mutter und Geschwistern, in einem kleinen Pensionszimmer. Zwar ist sie angetan, als Edgar sie auf der Straße anspricht, aber zu leicht kann und will sie es ihm nicht machen. Nach einigen Stunden erlöst sie ihn schließlich und die beiden gehen etwas trinken. Danach nimmt Toni ihn sogar mit auf ihr Zimmer, immer auf der Hut vor der Zimmerwirtin, Frau Konrad.

 

"Jetzt müssen wir leise sein", flüstert sie. Sie hat gehört, wie Frau Konrad ins Bad gegangen ist, danach in die Küche, für ihren Becher warme Milch mit einem Schuss Likör, gleich wird sie durch den Flur kommen und an den Türen horchen. (...) "Fräulein Weber", die Stimme der Konrad. "Ist Ihr Besuch noch da?" "Nein, kein Besuch. Es ist doch schon nach elf", ruft sie zurück. Sie warten, verharren wie zwei Kinder, die sich versteckt haben, kurz davor, in ihrem Unterschlupf entdeckt zu werden.

 

Nach dem ersten erfolgreichen Rendezvous schreibt Edgar Toni Briefe. Er lädt sie erneut ein, diesmal ins Kino, "das Programm würde uns folgende Auswahl bieten: 1.) Die Todesstrahlen des Dr. Mabuse, 2.) Hitchcock's Marnie, 3.) Leih mir Deinen Mann."

 

Eine zarte Liebesbeziehung beginnt zwischen den beiden, sie gehen Essen, schreiben sich Briefe, manchmal übernachten sie sogar heimlich beieinander. Bis Edgar das Angebot erhält, beruflich nach Hongkong zu gehen. Toni ist begeistert, möchte ihn begleiten, schmiedet Zukunftspläne. Um finanziell etwas abgesichert zu sein, geht Edgar zunächst allein. Toni soll nachkommen, sobald er für eine sichere Grundlage gesorgt hätte. Per Brief und Telefon verloben sich die beiden schließlich, Toni kündigt Wohnung und Job und hält sich bereit, um dem Geliebten nachzufolgen.

 

Bereits zu Beginn erfährt der Leser von Tonis Tochter, dass die Liebe zwischen Toni und Edgar nicht gehalten hat. Warum sich alles anders entwickelt hat als angenommen, erfährt man jedoch erst kurz vor Ende des Buches.

 

Der Roman spielt allerdings nicht nur in der Vergangenheit. In einem zweiten Erzählstrang, der aber weniger Raum einnimmt als die Geschichte der jungen Toni, erfährt man vom Leben ihrer Tochter. Sie ist Architektin und ihre einzige Tochter Hanna steht kurz vor dem Abitur. Tonis Tochter (deren Name meiner Erinnerung nach nicht erwähnt wird) steht jetzt ein doppeltes Loslassen bevor: einerseits die gerade verstorbene Mutter, andererseits die junge Tochter mit Freiheitsdrang.

 

Sie hatte schon ein Jahr vor dem Abitur angefangen, sich über Universitäten zu informieren, alle, für die sie sich interessierte, lagen mindestens fünfhundert Kilometer von uns entfernt, einige im Ausland. Niemand hatte mich gewarnt, wie schwer es sein würde, ein Kind loszulassen, und welche Anstrengung es kostete, sich das nicht anmerken zu lassen.

 

Kristine Bilkau ist mit "Eine Liebe, in Gedanken" ein toller Roman geglückt. Nicht nur, dass man sich als Leser wunderbar in die 60er Jahre versetzt fühlt, mit all den Restriktionen und gleichzeitig den Möglichkeiten, die die Zeit für die Jugend bereithielt. Auch schafft die Autorin es, in einer sprachlichen Leichtigkeit von nicht unbedingt leichten Themen zu berichten, die doch jeden betreffen: Verlust von geliebten Menschen, Angst, Unsicherheit, enttäuschten Hoffnungen.

Ein Buch, das berührt, das aber trotzdem ein schönes Gefühl hinterlässt. Und ein Buch, das sich wunderbar eignet, wenn man nicht viel Zeit hat: Die 256 Seiten, die in kurze Abschnitte gegliedert sind, sowie die Sprache der Autorin erlauben es, auch mal ein paar Tage Pause zu machen und trotzdem wieder sofort in der Geschichte zu sein.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0