"Es ist merkwürdig."
Mit dieser kurzen Feststellung beginnt Tom Sallers Debutroman "Wenn Martha tanzt". Wir schreiben das Jahr 2001. Ein junger Mann ist aus Deutschland nach New York gekommen, um an einer Versteigerung teilzunehmen. Im berühmten Auktionshaus Sotheby's wird ein Tagebuch angeboten, dessen Wert auf mehrere Millionen Euro geschätzt wird. Die Verfasserin des Tagebuchs ist die Urgroßmutter des jungen Mannes. Er selbst hat das Tagebuch nach dem Tod seiner Großmutter auf dem Dachboden gefunden, versteckt in einer alten Reisetasche der Verstorbenen.
1900 in Pommern. Martha wird geboren, als Tochter von Elfriede und Otto, der zuhause eine Kapelle und eine Schule für Berufsmusiker betreibt. Während seine Tochter das Licht der Welt erblickt, schwingt Otto ein paar Räume weiter den Taktstock. Martha wächst als Einzelkind auf. Ihren Bruder Heinzchen spürt sie zwar stets an ihrer Seite, allerdings ist er bereits vor ihrer Geburt verstorben.
Als Martha größer wird, fürchten Otto und Elfriede zunächst, sie habe kein musikalisches Gehör und kein Talent. Mit den Begriffen "höher", "tiefer", "fröhlich" oder "traurig" kann sie in musikalischer Hinsicht nichts anfangen. Für sie werden Töne größer und kleiner, sind eckig oder rund.
Nach dem Schulabschluss entscheidet sich Martha auf Rat von Wolfgang, der auch im Haus lebt und ein langjähriger Freund der Familie ist, das Lehrerinnenseminar zu besuchen. Zwar möchte sie keine
Lehrerin werden, aber Wolfgang hat von einer neuen Kunstschule gehört, die in Kürze in Weimar eröffnet werden soll. Dort sei sie bestimmt richtig, vermutet er. Und tatsächlich geht sie bald
danach ans Bauhaus und studiert unter Walter Gropius und Johannes Itten. Als Abschiedsgeschenk überreicht Wolfgang Martha ein Notenheft, das sie von nun an als Tagebuch benutzt. Und das viele
Jahre später von großem Wert sein wird.
Kurz bevor das Staatliche Bauhaus Weimar 1925 verlässt und nach Dessau umsiedelt, wendet Martha der Schule den Rücken zu und geht zurück in die pommersche Provinz. In ihren Armen hält sie ein Kind.
Marthas Geschichte ist noch lange nicht vorbei. Bis zum Januar 1945 notiert sie alle wichtigen Erlebnisse ihres Lebens in ihrem Tagebuch. Bis das Schicksal sie und ihr Kind an Board der Wilhelm Gustloff führt.
Zurück in New York, 2001. Kurz nach der Versteigerung erhält der junge Ich-Erzähler (dessen Namen übrigens nie genannt wird), einen Anruf. Die Meistbietende möchte ihn kennenlernen. Und dem jungen Mann blühen einige Überraschungen.
Tom Saller ist mit seinem Debut mehr als "nur" ein Bauhausroman gelungen. Seine Familiengeschichte umfasst insgesamt mehr als ein Jahrhundert meist deutscher Geschichte, wobei der Fokus klar auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Zwei Kriege, Familienbande, Schicksale, Liebesgeschichten und Freundschaften, Musik, Kunst und Gesellschaft - all das verwebt Saller auf nicht einmal 300 Seiten zu einem großen Ganzen, das gleichermaßen unterhält und zur eigenen Recherche anregt. Ein tolles Urlaubsbuch, das sich aber natürlich auch für die heimischen Gefilde bestens eignet.
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